Montag, 24. September 2012

Fallbeispiel: Das taube Bein


Anamnese:

Allgemein:
- 50-jähriger Patient
- voll orientiert
- adipös
- Schlosser
- das linke Bein sei taub

Frage: Welche Differenzialdiagnosen fallen Ihnen zum Thema Taubheit einer Extremität ein?

Differenzierung der Beschwerden:
Das Symptom sei ihm vor drei Stunden aufgefallen. Er selbst wäre nicht zum Arzt gegangen, aber seine Frau habe darauf gedrängt. Das Symptom habe sich in seiner Intensität nicht verändert. Er kenne solche Beschwerden nicht. Einen Auslöser könne er nicht benennen. Er selbst habe festgestellt, dass die gesamte linke Körperhälfte betroffen sei.

Vorerkrankungen:
Er habe irgendwas mit dem Herzen und die Zuckerkrankheit.

Medikamenten- und Suchtanamnese:
Er rauche seit 30 Jahren. Ein Medikament nehme er. Er habe mal eine Weile dieses Aspirin genommen wegen irgendwas am Herzen. Aber das habe er abgesetzt. Genauso wie irgendein anderes Herzmittel. Wegen dem Zucker nehme er irgendein Mittel, dessen Namen er vergessen habe.

Vegetative Anamnese:
Der Patient ist ruhig. Bei der Frage, wie das Wasserlassen funktioniere, sagt er, dass er vorhin auf Toilette gehen wollte, aber es irgendwie nicht funktioniert habe.

Sozioökonomische Anamnese:
Er sei seit 20 Jahren glücklich verheiratet, sehr zufrieden mit seinem Beruf, auch wenn dieser manchmal etwas stressig sei.

Familienanamnese:
Sein Vater habe mal eine Thrombose im Bein gehabt.

Fragen: Woran denken Sie, wenn der Patient ihnen sagt, dass er mal Aspirin wegen dem Herzen genommen habe? Worauf legen Sie bei der körperlichen Untersuchung wert?


Befund:

Kopf/Hals:
- keine Strömungsgeräusche über den Karotiden
- Hirnnerven intakt
Herz/Kreislauf:
- unregelmäßiger peripherer Puls
- Blutdruck von 110/70
- auskultatorisch und palpatorisch unregelmäßiger Herzschlag im 4. ICR links-parasternal
Neurologie:
- abgeschwächte Sensibilität von linkem Bein, linkem Arm und linkem Körperstamm
- Schmerz- und Temperaturempfinden intakt
- Reflexe seitengleich gut auslösbar
- keine pathologischen Reflexe
- leichte Gangunsicherheit

Frage: Was ist die wahrscheinlichste Verdachtsdiagnose?


(zur Auflösung bitte scrollen)



























Erläuterung zum Fallbeispiel "Schlaganfall"

Der Schlaganfall ist ein Krankheitsbild, welches, je nach Lokalisation der Schädigung, nicht unbedingt zum Tod führen muss, aber sehr wohl bleibende Schäden hinterlassen kann, wenn nicht schnell gehandelt wird. Deshalb ist es wichtig, ihn gut und sicher diagnostizieren zu können.
Die allgemeine Anamnese dieses Falles erscheint nicht sehr dramatisch. Der Patient ist ansprechbar, äußert sich adäquat. Er berichtet über leichtes Taubheitsgefühl des linken Beines.
Ein interessanter Fakt, der immer wieder auftritt, ist, dass der Patient von sich aus nicht zum Arzt gegangen wäre, was für Schlaganfallpatienten recht typisch ist, da sie oft keine Schmerzen haben. So auch in diesem Fall. Das erstmalige Auftreten der Symptomatik sollte als wichtig erachtet werden, da dies der Normalfall im Zusammenhang mit dieser Krankheit ist.
Bei den Vorerkrankungen erwähnt er das Herz, was er nicht näher spezifizieren kann, und einen Diabetes mellitus. Letzterer steht als Teil des metabolischen Syndroms (adipös ist er ja auch) oft mit Schlaganfällen in Zusammenhang. Was das Herz betrifft, so muss man vor allem Herzrhythmusstörungen im Blick haben. Insbesondere das Vorhofflimmern, welches durch die Medikamentenanamnese ja weiter in den Vordergrund rückt. Er gibt an, eine Weile ASS genommen zu haben, "wegen dem Herzen". Es handelte sich also nicht um eine Kopfschmerzbehandlung, sondern höchstwahrscheinlich war die Indikation die Blutverdünnung. Dass er es selbst abgesetzt habe, ist etwas beunruhigend. Nebenbei soll noch erwähnt werden, dass ASS in Zusammenhang mit Vorhofflimmern eingesetzt wird, um eine Thrombenbildung zu verhindern. Pathophysiologisch findet durch Vorhofflimmern eine verminderte Blutbewegung im Herzen statt, da der Vorhof nicht mehr adäquat arbeitet. Und dies begünstigt die Entstehung von Thromben im Vorhof, die, wenn sie sich lösen, zu Embolien führen können. Ein sich lösender Thrombus im rechten Vorhof führt dann logischerweise zu einer Lungenembolie und einer im linken Vorhof zu einer Embolie im großen Kreislauf; also unter Umständen auch im Gehirn. Das zweite Herzmittel, welches der Patient selbst abgesetzt hat, war wahrscheinlich ein Antiarrhythmikum, aber dies bleibt Mutmaßung. Dass der Patient schon lange raucht, ist als weiterer Risikofaktor für einen Schlaganfall zu sehen.
Am Rande soll hier noch ergänzt werden, dass ein Schlaganfall im Grunde genommen durch drei Szenarien ausgelöst werden kann. Zum einen kann er Folge einer Arteriosklerose der zum Hirn führenden Gefäße sein, wofür metabolisches Syndrom und Rauchen Risikofaktoren darstellen. Zweitens kann er von einem Vorhofflimmern, dortiger Gerinnselbildung und einer folgenden Hirnembolie herrühren. Für diese beiden Szenarien bestehen in diesem Fallbeispiel Anhaltspunkte, was hellhörig machen sollte. Eine dritte Ursache für einen Schlaganfall ist die Hirnblutung (ca. 15% aller Fälle), welche verschiedene Risikofaktoren hat (Hypertonie, Hirnaneurysmen, Angiome, Hirntumoren u./o. Blutgerinnungsstörungen). Die häufigste Form ist in diesem Zusammenhang die Subarachnoidalblutung (SAB), welche durch akute, vernichtende Kopfschmerzen und oft auch Nackensteifigkeit imponiert. Für diese gibt es hier offensichtlich kaum Hinweise.
Dass der Patient bei der vegetativen Anamnese angibt, das Wasserlassen habe vor kurzer Zeit nicht funktioniert, kann durch Aufregung bedingt sein, aber auch neurologische Ursachen haben, was für die Verdachtsdiagnose spräche.
Die Anamnese wird abgeschlossen mit zwei weiteren richtungsweisenden Informationen. Zum einen berichtet er von Stress auf der Arbeit, was Einfluss auf die Gesundheit haben kann. Und er sagt, sein Vater habe eine Thrombose im Bein gehabt. Es ist nicht bekannt, ob eine familiäre Erkrankung des Blutes festgestellt wurde. Aber im Hinterkopf sollte man diesen Fakt haben.

Die Untersuchung von Kopf und Hals ergibt keine pathologischen Zeichen. Typische Zeichen bei Betroffenheit der Hirnnerven wären zum Beispiel Sehstörungen (typischerweise mit Blickwendungen zur Seite des Infarktes), Gleichgewichtsstörungen und Störungen des Sprechens. Im Zusammenhang mit den Hirnnerven gibt gilt es noch das berühmte Wallenberg-Syndrom zu erwähnen. Dabei handelt es sich ursächlich um einen Infarkt der dorsolateralen Medulla oblongata, welcher sich unter anderem durch die Horner-Trias (Miosis, Ptosis, Pseudoenophthalmus) darstellt.
Haarig wird es bei der Herz-/Kreislauf-Untersuchung. Es wird ein unregelmäßiger peripherer Puls festgestellt. Der Patient ist leicht hypoton. Die direkte Untersuchung des Herzens bestätigt die Arrhythmie. Der Verdacht einer absoluten Arrhythmie bei Vorhofflimmern erhärtet sich. Und diese gilt als hoher Risikofaktor für einen Schlaganfall.
Die neurologische Untersuchung ergibt zwei wichtige Befunde: eine abgeschwächte Sensibilität der gesamten linken Körperhälfte, mit Ausnahme des Kopfes. Dazu besteht eine leichte Gangunsicherheit.
Dieser Patient gehört nicht nur wegen des wahrscheinlichen Schlaganfalls in ärztliche Behandlung, sondern auch wegen der Arrhythmie des Herzens. Es muss ihm nahegelegt werden, seine Medikation wieder aufzunehmen, um weitere thrombembolische Ereignisse in der Zukunft zu verhindern.
Woran man sich in diesem Fall orientieren kann, sind die vier zeitlichen Stadien eines Schlaganfalls. Stadium 1 wird als TIA (transitorische ischämische Attacke) bezeichnet. Nehmen wir an, der Patient hätte Ihnen berichtet, dass er am Tag zuvor seine beschriebe Symptomatik gehabt hätte, diese aber komplett wieder abgeklungen sei, so fiele der Fall in dieses Stadium (regelmäßig findet sich übrigens auch eine sogenannte Amaurosis fugax (vorübergehende Blindheit) im Zusammenhang mit einer TIA). Dies ist aber nicht der Fall.
Es bleiben drei weitere Stadien, von denen Sie allerdings nicht sagen können, in welches dieser Patient einzuordnen ist. Stadium 2, genannt PRIND (prolongiertes reversibles ischämisches neurologisches Defizit), ist gekennzeichnet durch ein neurologisches Defizit, welches länger als 24 Stunden dauert, sich dann aber komplett zurückbildet. Im Stadium 3, PS (progressive stroke = fortgeschrittener Schlaganfall), können die Symptome über Tage zunehmen, bilden sich dann aber nur teilweise zurück. Und letztendlich finden sich im Stadium 4, CS (complete stroke), bleibende, sich nicht zurückbildende Ausfälle.
Fiele der Patient in das Stadium 1, so genügte es wahrscheinlich, ihn an einen ambulanten Neurologen zu verweisen. Aufgrund der Tatsache jedoch, dass alle drei Folgestadien in Betracht kommen, sollte der Patient intensivmedizinisch behandelt werden. Der Grund dafür ist, dass das frühe Einsetzen intensivmedizinischer Maßnahmen bei einem Schlaganfall von größter prognostischer Bedeutung ist. Es gilt hier der Merksatz: Zeit ist Hirn.


1 Kommentar:

  1. Sehr aussagekräftig dargestellte Information zu diesem Thema. Vielen herzlichen Dank . Gut gemacht würde ich so einschätzen.

    AntwortenLöschen