Anamnese:
Allgemein:
-
50-jähriger Patient
-
voll orientiert
-
adipös
-
Schlosser
-
das linke Bein sei taub
Frage:
Welche Differenzialdiagnosen fallen Ihnen zum Thema Taubheit einer
Extremität ein?
Differenzierung
der Beschwerden:
Das
Symptom sei ihm vor drei Stunden aufgefallen. Er selbst wäre nicht
zum Arzt gegangen, aber seine Frau habe darauf gedrängt. Das Symptom
habe sich in seiner Intensität nicht verändert. Er kenne solche
Beschwerden nicht. Einen Auslöser könne er nicht benennen. Er
selbst habe festgestellt, dass die gesamte linke Körperhälfte
betroffen sei.
Vorerkrankungen:
Er
habe irgendwas mit dem Herzen und die Zuckerkrankheit.
Medikamenten-
und Suchtanamnese:
Er
rauche seit 30 Jahren. Ein Medikament nehme er. Er habe mal eine
Weile dieses Aspirin genommen wegen irgendwas am Herzen. Aber das
habe er abgesetzt. Genauso wie irgendein anderes Herzmittel. Wegen
dem Zucker nehme er irgendein Mittel, dessen Namen er vergessen habe.
Vegetative
Anamnese:
Der
Patient ist ruhig. Bei der Frage, wie das Wasserlassen funktioniere,
sagt er, dass er vorhin auf Toilette gehen wollte, aber es irgendwie
nicht funktioniert habe.
Sozioökonomische
Anamnese:
Er
sei seit 20 Jahren glücklich verheiratet, sehr zufrieden mit seinem
Beruf, auch wenn dieser manchmal etwas stressig sei.
Familienanamnese:
Sein
Vater habe mal eine Thrombose im Bein gehabt.
Fragen:
Woran denken Sie, wenn der Patient ihnen sagt, dass er mal Aspirin
wegen dem Herzen genommen habe? Worauf legen Sie bei der körperlichen
Untersuchung wert?
Befund:
Kopf/Hals:
-
keine Strömungsgeräusche über den Karotiden
-
Hirnnerven intakt
Herz/Kreislauf:
-
unregelmäßiger peripherer Puls
-
Blutdruck von 110/70
-
auskultatorisch und palpatorisch unregelmäßiger Herzschlag im 4.
ICR links-parasternal
Neurologie:
-
abgeschwächte Sensibilität von linkem Bein, linkem Arm und linkem
Körperstamm
-
Schmerz- und Temperaturempfinden intakt
-
Reflexe seitengleich gut auslösbar
-
keine pathologischen Reflexe
-
leichte Gangunsicherheit
Frage:
Was ist die wahrscheinlichste Verdachtsdiagnose?
(zur
Auflösung bitte scrollen)
Erläuterung
zum Fallbeispiel "Schlaganfall"
Der
Schlaganfall ist ein Krankheitsbild, welches, je nach Lokalisation
der Schädigung, nicht unbedingt zum Tod führen muss, aber sehr wohl
bleibende Schäden hinterlassen kann, wenn nicht schnell gehandelt
wird. Deshalb ist es wichtig, ihn gut und sicher diagnostizieren zu
können.
Die
allgemeine Anamnese dieses Falles erscheint nicht sehr dramatisch.
Der Patient ist ansprechbar, äußert sich adäquat. Er berichtet
über leichtes Taubheitsgefühl des linken Beines.
Ein
interessanter Fakt, der immer wieder auftritt, ist, dass der Patient
von sich aus nicht zum Arzt gegangen wäre, was für
Schlaganfallpatienten recht typisch ist, da sie oft keine Schmerzen
haben. So auch in diesem Fall. Das erstmalige Auftreten der
Symptomatik sollte als wichtig erachtet werden, da dies der
Normalfall im Zusammenhang mit dieser Krankheit ist.
Bei
den Vorerkrankungen erwähnt er das Herz, was er nicht näher
spezifizieren kann, und einen Diabetes mellitus. Letzterer steht als
Teil des metabolischen Syndroms (adipös ist er ja auch) oft mit
Schlaganfällen in Zusammenhang. Was das Herz betrifft, so muss man
vor allem Herzrhythmusstörungen im Blick haben. Insbesondere das
Vorhofflimmern, welches durch die Medikamentenanamnese ja weiter in
den Vordergrund rückt. Er gibt an, eine Weile ASS genommen zu haben,
"wegen dem Herzen". Es handelte sich also nicht um eine
Kopfschmerzbehandlung, sondern höchstwahrscheinlich war die
Indikation die Blutverdünnung. Dass er es selbst abgesetzt habe, ist
etwas beunruhigend. Nebenbei soll noch erwähnt werden, dass ASS in
Zusammenhang mit Vorhofflimmern eingesetzt wird, um eine
Thrombenbildung zu verhindern. Pathophysiologisch findet durch
Vorhofflimmern eine verminderte Blutbewegung im Herzen statt, da der
Vorhof nicht mehr adäquat arbeitet. Und dies begünstigt die
Entstehung von Thromben im Vorhof, die, wenn sie sich lösen, zu
Embolien führen können. Ein sich lösender Thrombus im rechten
Vorhof führt dann logischerweise zu einer Lungenembolie und einer im
linken Vorhof zu einer Embolie im großen Kreislauf; also unter
Umständen auch im Gehirn. Das zweite Herzmittel, welches der Patient
selbst abgesetzt hat, war wahrscheinlich ein Antiarrhythmikum, aber
dies bleibt Mutmaßung. Dass der Patient schon lange raucht, ist als
weiterer Risikofaktor für einen Schlaganfall zu sehen.
Am
Rande soll hier noch ergänzt werden, dass ein Schlaganfall im Grunde
genommen durch drei Szenarien ausgelöst werden kann. Zum einen kann
er Folge einer Arteriosklerose der zum Hirn führenden Gefäße sein,
wofür metabolisches Syndrom und Rauchen Risikofaktoren darstellen.
Zweitens kann er von einem Vorhofflimmern, dortiger Gerinnselbildung
und einer folgenden Hirnembolie herrühren. Für diese beiden
Szenarien bestehen in diesem Fallbeispiel Anhaltspunkte, was
hellhörig machen sollte. Eine dritte Ursache für einen Schlaganfall
ist die Hirnblutung (ca. 15% aller Fälle), welche verschiedene
Risikofaktoren hat (Hypertonie, Hirnaneurysmen, Angiome, Hirntumoren
u./o. Blutgerinnungsstörungen). Die häufigste Form ist in diesem
Zusammenhang die Subarachnoidalblutung (SAB), welche durch akute,
vernichtende Kopfschmerzen und oft auch Nackensteifigkeit imponiert.
Für diese gibt es hier offensichtlich kaum Hinweise.
Dass
der Patient bei der vegetativen Anamnese angibt, das Wasserlassen
habe vor kurzer Zeit nicht funktioniert, kann durch Aufregung bedingt
sein, aber auch neurologische Ursachen haben, was für die
Verdachtsdiagnose spräche.
Die
Anamnese wird abgeschlossen mit zwei weiteren richtungsweisenden
Informationen. Zum einen berichtet er von Stress auf der Arbeit, was
Einfluss auf die Gesundheit haben kann. Und er sagt, sein Vater habe
eine Thrombose im Bein gehabt. Es ist nicht bekannt, ob eine
familiäre Erkrankung des Blutes festgestellt wurde. Aber im
Hinterkopf sollte man diesen Fakt haben.
Die
Untersuchung von Kopf und Hals ergibt keine pathologischen Zeichen.
Typische Zeichen bei Betroffenheit der Hirnnerven wären zum Beispiel
Sehstörungen (typischerweise mit Blickwendungen zur Seite des
Infarktes), Gleichgewichtsstörungen und Störungen des Sprechens. Im
Zusammenhang mit den Hirnnerven gibt gilt es noch das berühmte
Wallenberg-Syndrom zu erwähnen. Dabei handelt es sich ursächlich um
einen Infarkt der dorsolateralen Medulla oblongata, welcher sich
unter anderem durch die Horner-Trias (Miosis, Ptosis,
Pseudoenophthalmus) darstellt.
Haarig
wird es bei der Herz-/Kreislauf-Untersuchung. Es wird ein
unregelmäßiger peripherer Puls festgestellt. Der Patient ist leicht
hypoton. Die direkte Untersuchung des Herzens bestätigt die
Arrhythmie. Der Verdacht einer absoluten Arrhythmie bei
Vorhofflimmern erhärtet sich. Und diese gilt als hoher Risikofaktor
für einen Schlaganfall.
Die
neurologische Untersuchung ergibt zwei wichtige Befunde: eine
abgeschwächte Sensibilität der gesamten linken Körperhälfte, mit
Ausnahme des Kopfes. Dazu besteht eine leichte Gangunsicherheit.
Dieser
Patient gehört nicht nur wegen des wahrscheinlichen Schlaganfalls in
ärztliche Behandlung, sondern auch wegen der Arrhythmie des Herzens.
Es muss ihm nahegelegt werden, seine Medikation wieder aufzunehmen,
um weitere thrombembolische Ereignisse in der Zukunft zu verhindern.
Woran
man sich in diesem Fall orientieren kann, sind die vier zeitlichen
Stadien eines Schlaganfalls. Stadium 1 wird als TIA (transitorische
ischämische Attacke) bezeichnet. Nehmen wir an, der Patient hätte
Ihnen berichtet, dass er am Tag zuvor seine beschriebe Symptomatik
gehabt hätte, diese aber komplett wieder abgeklungen sei, so fiele
der Fall in dieses Stadium (regelmäßig findet sich übrigens auch
eine sogenannte Amaurosis fugax (vorübergehende Blindheit) im
Zusammenhang mit einer TIA). Dies ist aber nicht der Fall.
Es
bleiben drei weitere Stadien, von denen Sie allerdings nicht sagen
können, in welches dieser Patient einzuordnen ist. Stadium 2,
genannt PRIND (prolongiertes reversibles ischämisches neurologisches
Defizit), ist gekennzeichnet durch ein neurologisches Defizit,
welches länger als 24 Stunden dauert, sich dann aber komplett
zurückbildet. Im Stadium 3, PS (progressive stroke =
fortgeschrittener Schlaganfall), können die Symptome über Tage
zunehmen, bilden sich dann aber nur teilweise zurück. Und
letztendlich finden sich im Stadium 4, CS (complete stroke),
bleibende, sich nicht zurückbildende Ausfälle.
Fiele
der Patient in das Stadium 1, so genügte es wahrscheinlich, ihn an
einen ambulanten Neurologen zu verweisen. Aufgrund der Tatsache
jedoch, dass alle drei Folgestadien in Betracht kommen, sollte der
Patient intensivmedizinisch behandelt werden. Der Grund dafür ist,
dass das frühe Einsetzen intensivmedizinischer Maßnahmen bei einem
Schlaganfall von größter prognostischer Bedeutung ist. Es gilt hier
der Merksatz: Zeit ist Hirn.
Sehr aussagekräftig dargestellte Information zu diesem Thema. Vielen herzlichen Dank . Gut gemacht würde ich so einschätzen.
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